alma mundi AKADEMIE

Das Feiern der Lebenskraft als geomantischer Akt

14. Mai 2020

Als Grünkraft (lat. Begriff „viriditas“), bezeichnete Hildegard von Bingen, die Kraft, die allem Lebendigen zugrunde liegt. Eine Lebenskraft, die Mensch und Erde durchdringt und kraftvolles Leben überall ermöglicht, wo das Grüne geschätzt und genutzt wird. Wenn wir uns in Ihr bewegen und uns von Ihr durchdringen lassen, bringt sie uns heilende Lebensenergie.

Schon immer wurde die Frühlingszeit mit der Geburt dieser Kraft assoziiert. Die Luft füllt sich mit dem Blühen der Pflanzenwelt, die ersten Schwalbenschwärme durchziehen unser Gebiet und weben mit am Himmelsnetz. Insektenschwärme und Vogelgesang sind zu sehen und zu hören. Alles singt, gedeiht und erleuchtet farbenfroh. Dies ist eine Zeit, wie sie von den alten Völkern und Kulturen immer gefeiert und herbei gesehnt wurde, eine Zeit in der Himmel und Erde sich vermählen. Dabei handelt es sich nicht um ein Märchenbild. Im energetischen Raum entspricht dies der Wirklichkeit. 

Das uralte Symbol des Maibaumes nimmt dieses jahreszeitliche Herbeisehnen der Grünkraft auf und gibt ihr einen feierlichen Rahmen. Der Maienbaum bekommt einen geschmückten Ring, in dem sich die männliche (der Baumstamm/der Pfahl) und die weibliche Kraft (der beschmückte Ring) verbinden. Traditionell waren es drei Ringe, stellvertretend für die drei Welten (Unterwelt – Menschenwelt – Kosmische Welt). Das Feiern dieser Dreiheit geht weit zurück, bis in vorchristlichen Zeiten, als diese Welten durch die drei Göttinen mit ihren Farben Weiß, Rot und Schwarz verehrt wurden. Die weiße Göttin nahm als jungfräuliche Gestalt des Frühlings bei den Festivitäten eine besondere Rolle ein. Ihr wird heute noch durch die Ernennung der Maikönigin gehuldigt. Viele der alten Feste sind mit ihrer Symbolik tief in den alten Fruchtbarkeitsriten des Frühlings verwurzelt.

Früher wurden Maibäume in der Dorfmitte aufgestellt und Kreistänze um ihn herum veranstaltet. Die energetische Kraft wurde damit in der Mitte gebunden, so dass sie das Dorf, seine Menschen und die Landschaft befruchten konnte. Die Dorfmitte, als energetisch kraftvollster Ort, wirkte somit als ein geomantisches Zentrum, um den umgebenden Landschaftskörper in ein belebendes Pulsieren zu bringen.

Wie so oft ist vielerorts aus dieser sinnerfüllten alljährlichen rituellen Arbeit zwischen Mensch, Ort und Landschaft, nicht mehr viel übrig geblieben. Auch werden die drei Ringe immer öfter nur noch zu zwei oder einem Ring – dem Verlust der Wahrnehmung dieser Welten entsprechend. Und dennoch: wenn es auf den Mai zugeht und die Männer den unverheirateten Frauen einen Maibaum vor die Tür stellen, so wird nicht nur ein Klischee der Romantik bedient, sondern auch die archetypischen Vorgänge in der Natur sichtbar und immer wieder neu erfahrbar gemacht.